Gedenken als Impfstoff gegen die Gewalt: Mahnmal Hunswinkel 21.6.2015

18 Jahre nach Errichtung des Mahnmals Hunswinkel durch den Stadtrat und den Künstler Heinz Richter

Matthias Wagner

Für die 23.000 unbekannten ertrunkenen Flüchtlinge an den Grenzen Europas zwischen 2000 und heute läuteten vorgestern die Glocken im Erzbistum Köln. Nie haben Lüdenscheider Glocken für die meist unbekannten 500 Toten des Lagers Hunswinkel in Lüdenscheid geläutet. Das wäre zur Erinnerung an die Opfer 75 Jahre nach der Gründung des Lagers am 23.8.1940 sinnvoll. Damals errichteten hier die Geheime Staatspolizei, der Arbeitgeberverband und der Reichstreuhänder der Arbeit in Essen das erste NS-Arbeitserziehungslager.

Arbeitgeber haben sich bis heute selten zu ihrer Verantwortung für die mehr als 200 Arbeitserziehungslager bekannt, in denen ca. 1 Million Menschen viel Leid und - bei einer Sterblichkeitsquote von ca. 10 % - oft der Tod zugefügt wurde. Zu den positiven Beispielen gehört der Ruhrverband. Arbeitsämter und Polizei haben es bis heute nach unserem Wissen hier noch nicht getan. Diese Lager wurden als Ergänzung zu den ca. 20 Konzentrationslagern von den Nationalsozialisten errichtet. Sie waren mit der Absicht geschaffen worden, deutsche Arbeiter für 6 Wochen und osteuropäische Zwangsarbeiter für 12 Wochen so zu schinden, dass sie nicht mehr in den Betrieben Kritik übten. Die nach der damaligen Sprechweise "Erzogenen" - also Misshandelten - kehrten dann, meistens krank und gebrochen, wieder in ihre Betriebe zurück. Daran hatten die Arbeitgeber sehr großes Interesse; denn wer in die Konzentrationslager gebracht wurde, war dem Arbeitgeber auf unbestimmte Zeit entzogen und unterstand der Willkür der SS. Wer aber in ein ähnlich unmenschliches Arbeitserziehungslager eingewiesen wurde, kam nach 6 oder 12 Wochen wieder in seine Firma zurück.

1940 und 1941 kamen nur Deutsche in das AEL Hunswinkel. Ihnen wurden so schwere Arbeiten zugemutet, dass bis zur Hälfte erkrankten und im Krankenhaus eingewiesen wurden. Im 2. Zeitabschnitt, der vom Frühjahr 1941 bis zum Herbst 1944 dauerte, waren überwiegend zivile Zwangsarbeiter aus Osteuropa hier inhaftiert. Viele starben in dieser Zeit. Nur die Namen von ca. 90 sind bekannt und in dem Lüdenscheider Gedenkbuch verzeichnet. In der mündlichen Tradition der Lüdenscheider wird von ca. 200 Opfern des Arbeitserziehungslagers gesprochen. Für das Buch "Arbeit macht frei - Zwangsarbeit in Lüdenscheid" konnte ein Dokument der Kriegsgräberfürsorgestelle Iserlohn verwertet werden, in dem 570 tote Zwangsarbeiter in Lüdenscheid-Land verzeichnet wurden. Da auch an anderen Orten in der Gemeinde Lüdenscheid-Land Zwangsarbeiter durch Hunger, Schwerstarbeit oder Gewalt ums Leben gebracht wurden, steht auf dem Mahnmal Hunswinkel die Zahl ca. 550. Unter alten Lüdenscheidern ist sie umstritten, weil bis heute der Abstand zwischen ca. 200 vermute-ten Opfern des Lagers Hunswinkel und ca. 550 dokumentierten Opfern nicht zu erklären ist. Aber seit dem Gedenkmarsch Ende Februar 2015 von der Gedenkstätte Köln nach Lüdenscheid gibt es eine Erklärungsmöglichkeit, weil auf dem Friedhof Hühnersiepen Deutsche mit dem Sterbedatum 1945 zu finden sind, von denen zwei Juden aus dem Rheinland waren.

Dazu gibt es eine Vorgeschichte. Am Ende des Krieges sollten wichtige Gefangene nicht zurückgelassen, sondern mitgenommen und notfalls getötet werden. So kam es zu den vielen Massenmorden am Ende des Krieges. Die bekanntesten waren für unsere Gegend die ca. 200 Morde im Dortmunder Rombergpark. Durch weitere Nachforschungen wurden die Dokumente von drei Menschen aus dem Osten Belgiens bekannt, die 1945 verhaftet und über Aachen und Köln ins Arbeitserziehungslager Hunswinkel getrieben wurden, das damals auch mehrfach KZ genannt wurde. Auch Holländer und Luxemburger wurden in den letzten 6 Kriegswochen hierhin gebracht. In der mündlichen Überlieferung von alten Lüdenscheidern wird oft darüber gesprochen, dass von Hühnersiepen aus Schießgeräusche zu hören waren. Gab es hier am Ende der Krieges Massenexekutionen in dem Umfang der fehlenden ca. 300 Opfer? Wer weiß noch etwas und kann weiterhelfen? Zusammen mit der Gedenkstätte Köln werden die Friedensgruppe und der Ge-Denk-Zellen-Verein sich darum bemühen, Erklärungen zu finden, um noch weitere Namen von Opfern und das Geschehen im Lager Hunswinkel während der letzten 6 Wochen kennen zu lernen.

In der Zeit wurden unter der Leitung des Gestapo-Mitarbeiters Brodesser viele Häftlinge von Köln nach Hunswinkel gebracht. Mindestens zwei weitere Gruppen mussten aus dem Rheinland nach Hunswinkel laufen. Unterwegs starben mehrere. Das Lager Hunswinkel war im Herbst 1944 weitgehend leer geräumt worden. Die Häftlinge wurden unter der Leitung des Gestapo-Kommissars Karl Gertenbach in das Lager Sanssoucie (sorglos) im Hönnetal gebracht, wo Höhlen in die Kalksteine gebaut werden sollten, um dort Maschinen für kriegswichtige Produkte bombensicher aufzustellen. Im März 1945 wurde das leere Lager Hunswinkel wieder mit ca. 600 Häftlingen gefüllt. Was aus ihnen wurde, wissen wir heute kaum. Verlor hier die Hälfte ihr Leben durch Erschießen?

Einen wichtigen Bericht enthält das Tagebuch des britischen Offiziers Basel N. Reckitt, der mit der 1. US-Armee nach Olpe kam. Eintragung zum 13.April 1945: "Vom Stab des Korps kam an uns der Befehl, Verpflegung zu einem Konzentrationslager in einem Ort namens Hunswinkel zu transportieren. Die Insassen des Lagers waren am Verhungern und hatten vermutlich Flecktyphus. (…) Das Lager war klein, mit Stacheldraht eingezäumt. Es lag auf der Sohle eines großen, unbesiedelten Tales, das gerade zu einem (Wasser-)Reservoir (also einer Talsperre) aufgestaut werden sollte: ein trübseliger Flecken und weit abgelegen vom nächsten bewohnten Ort. Ein einarmiger belgischer Priester begrüßte uns in seiner Rolle als Lagerführer. Die Gestapo-Wachen waren geflohen, und er war, zusammen mit einer Gruppe deutscher Juden, Holländern und Holländerinnen dort gerade erst hingekommen nach einem einwöchigen Fußmarsch von Köln und praktisch ohne Verpflegung. Einige aus seiner Gruppewaren unterwegs gestorben. Im Lager waren noch einige der ursprünglichen Insassen verblieben, die wegen geringfügiger politischer Verbrechen oder nur, weil sie jüdische Blutsverwandte hatten, dort waren. Ein deutsches Mädchen von ungefähr 17 Jahren war Mitglied einer deutschen Untergrundbewegung gewesen und war mit Recht stolz darauf. Einige waren so abgemagert, dass über ihren Knochen statt Fleisch nur noch Haut war. Sie waren gerade noch in der Lage zu laufen, ganz langsam und mit wackelndem unsicherem Gang. (…) Nachdem wir die Verpflegung abgeliefert hatten, zogen wir ab mit dem Versprechen, am nächsten Tag zurückzukommen, um alle zu evakuieren. Sie zeigten äußerlich keine Freude, da die meisten von ihnen über das Stadium, wo man noch Gefühle zeigen konnte, hinaus waren. Es herrschten dumpfe Apathie und Elend…" (A. v. Plato /Almut Leh: "Ein unglaublicher Frühling", Bonn 1997, S. 214 f)

Nun wurde das Denkmal im Oktober 2014 gestohlen, das die Stadt Lüdenscheid auf Anfragen von Bürgern nach einem Ratsbeschluss hier am 20. Juni 1997 errichtete, damit die Toten nicht vergessen werden und die Erinnerung uns Mahnung zur Friedensarbeit bleibt. Die Stadt schuf im Januar 2015 die kleine Ersatztafel, die leicht zu übersehen ist. Deshalb schlug Rüdiger Drallmeyer der Friedensgruppe und dem Ge-Denk-Zellen-Verein vor, eine Lore aufzustellen, weil die schweren Steine zur Befestigung der Böschungen rings um die Talsperre streckenweise mit Loren geschoben und dann getragen wurden. Auf den Steinen in der Lore sollten die Nationalitäten der Opfergruppen stehen. Das wurde der Stadt vorgeschlagen, die darüber nachdenkt. Zwischenzeitlich konnte die Zustimmung des Ruhrverbands dafür gewonnen werden. Die Stadt hat für den Herbst ein Treffen geplant, auf dem gemeinsam über eine Neukonzeption beraten wird. Eine Erneuerung der alten Tafel ist nicht möglich, weil die Gussform leider sehr beschädigt ist und die Gefahr eines neuen Diebstahls zu groß ist.

Der Diebstahl soll nicht dazu führen, dass der grausamste Ort unserer Stadtgeschichte in Vergessenheit gerät. Vielmehr sollten wir das Gedenken als Impfstoff gegen die Propagierung der Gewalt und des Nationalismus als Lösungsansatz für die Probleme der Gegenwart verstehen. Unsere Verantwortung als Mensch gilt dem Schutz des Lebens z.B. auch von Kriegsflüchtlingen heute. Wir bitten die Gemeinden der Stadt um das Totengeläut für die mehr als 500 Opfer des Lagers Hunswinkel am 23.August und die Stadt um eine rasche Einigung für ein angemessenes Hunswinkel-Denkmal zum 75. Jahrestag.

Ge-Denk-Zellen Altes Rathaus Lüdenscheid e.V.
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